Sommer 2016: Marc Hoffmann

Im Februar 2016 stellte der „Deutsche Fußball-Botschafter“ Holger Obermann bei einem Empfang der Fußballabteilung des VfR Merzhausen das von ihm geförderte „Nepal Youth Programme“ vor, ein soziales Fußballprojekt für Kinder und Jugendliche in Kathmandu. Ich selbst interessiere mich für den Bereich Entwicklungszusammenarbeit und Sport und glaube an den Ansatz, das Leben von Menschen mit der Kraft des Fußballs positiv und nachhaltig beeinflussen zu können. Über den VfR wurde der Kontakt zum Nepal Youth Programme hergestellt, an dem ich im Sommer 2016 sechs Wochen als „Volunteer“ mitarbeiten konnte.

Die Fußballbegeisterung in Nepal bekam ich gleich nach meiner Ankunft zu spüren. Auf der Straße, auf dem Schulhof und im Park werden Bälle durch die Gegend gekickt. Kinder, Jugendliche sowie Erwachsene tragen Fußballtrikots – vor allem die der Premier League, aber auch der deutschen Nationalmannschaft. Allerdings fehlt es an Plätzen, auf denen vor allem Kinder und Jugendliche mehrmals pro Woche trainieren können. Vereinsfußball wie in Deutschland, wo jedes Dorf einen eigenen Fußballverein hat, gibt es nicht. Die „großen“ nepalesischen Vereine haben zwar einen Platz, aber an der Basisarbeit mangelt es.

Nach zwei Tagen Erholung von den Reisestrapazen und einer kleinen Eingewöhnungszeit begrüßten mich über 50 Kinder und Jugendliche an einem Samstagmorgen auf dem Obermann Football Ground in Kopan vor den Toren Kathmandus. Die erste Trainingseinheit bestand aus einem Kennenlernen und einfachen Übungen auf dem kleinen Platz mit allen Spielern und Spielerinnen. Bei dem Abschlussspiel der ältesten Gruppe musste der Gast aus Deutschland natürlich gleich mitspielen.

Von da an ging es abwechselnd jeden Tag auf den Fußballplatz. Die Senior-Mannschaft, bestehend aus den 16-20 Jährigen, trainierte immer morgens von 5.30 Uhr bis 7.30 Uhr, um im Anschluss pünktlich in die Schule gehen zu können. Am darauffolgenden Tag trainierten die Juniors von 16.30 Uhr bis 18.30 Uhr. Mein erster Eindruck sollte sich über den gesamten Zeitraum hinweg bestätigen:  Die Spieler waren  mit großer Motivation, Lernwilligkeit und Disziplin bei der Sache. Mit am meisten beeindruckten mich einige Juniors, die zu jedem Senior-Training um 5.30 Uhr erschienen und sich zwei Stunden, ohne Anleitung der Trainer, hinter den Toren oder in einer nicht genutzten Ecke des Platzes mit dem Ball beschäftigten – in Deutschland nur schwer vorstellbar. Die Kommunikation auf dem Platz verlief auf Englisch, und wenn sie ein- oder zweimal vorgemacht wurden, waren die Übungen jedem klar. Für mich war es eine neue Erfahrung, ein Training nicht unter „Idealbedingungen“, wie sie mittlerweile in jedem kleinen deutschen Verein herrschen, durchzuführen. In Kopan hieß es, auf einem kleinen, unebenen Sandplatz zu trainieren, mit weniger Materialien und mit Bällen von schlechterer Qualität. Zudem befand sich direkt hinter einem der Tore ein Abhang, dessen Gebüsch so manchen Ball nicht wieder hergab. Aber das Schöne am Fußball ist ja die Einfachheit des Spiels, sodass ich mich schnell an die Rahmenbedingungen anpassen konnte. Hervorzuheben ist die tolle Arbeit, die die drei Trainer Rajiv, Rajan und Raju in den bisherigen anderthalb Jahren seit Programmstart geleistet haben. Die NYP-Spieler sind technisch gut ausgebildet, und das Niveau ist durchaus mit dem der entsprechenden Altersgruppen in Deutschland vergleichbar. Die Trainer betreuen das Programm ehrenamtlich, um den Kindern die Möglichkeit zu bieten, regelmäßig unter Anleitung zu trainieren. Das ist insofern erwähnenswert, als dass das „Ehrenamt“ in Nepal nicht verbreitet ist.

Eine neue Erfahrung war für mich, mit einer reinen Mädchengruppe zu trainieren. In Deutschland habe ich zwar auch schon Mädchen trainiert, aber immer in gemischten Gruppen mit Jungen. Da die meisten Mädchen Anfängerinnen waren, teilten wir die Junior-Gruppe so auf, dass die Mädchen unter sich trainieren und wir ihnen in Ruhe die Grundlagen beibringen konnten. Es war schön zu sehen, wie schnell sich kleine Erfolgserlebnisse einstellten und wie sehr sich die Mädchen über den Fortschritt freuten.

Neben den täglichen Trainingseinheiten sind an den Wochenenden verschiedene Bildungsangebote und Workshops zur Förderung der sozialen Entwicklung der Kinder Teil des „Nepal Youth Programme“. In der ersten Phase meines Aufenthalts hielt ich einen Vortrag zum Thema „Sport and Education“. Ziel der Präsentation war es, die Bedeutung des Sports im Entwicklungsprozess von Kindern und Jugendlichen darzustellen. Die Präsentation war hauptsächlich an die Eltern der Spieler und Spielerinnen gerichtet, da bei vielen nepalesischen Eltern die Meinung vorherrscht, dass eine Stunde auf dem Fußballplatz eine Stunde verlorener Lernzeit ist. Gleichzeitig gab mir den Vortrag die Möglichkeit, mich den Eltern vorzustellen. Der letzte Teil der Präsentation fand auf dem Fußballplatz statt, auf dem ich mit einer kleinen Gruppe eine Reihe von koordinativ und kognitiv anspruchsvollen Übungen demonstrierte, um den Eltern zu zeigen, dass Fußballtraining mehr sein kann, als zwei Stunden den Ball durch die Gegend zu bolzen.

An einem weiteren Samstag führten wir einen „Environmental Awareness Day“ durch. Nach dem morgendlichen Training machten wir die NYP-Spieler auf die Müllproblematik in Nepal aufmerksam. Neben dem chaotischen Verkehr und den vielen streunenden Hunden auf den Straßen fiel mir die Müllverschmutzung am meisten auf. Das Werfen von jeglichem Plastikmüll (Verpackungen, Plastikflaschen) auf die Straße ist völlig normal. Die älteren Generationen sind dabei keine Vorbilder, öffentliche Mülleimer gibt es nicht, und wenn doch, gibt es niemanden, der sie leert, wie mir ein Nepalese sagte. Mit großen Müllsäcken ausgestattet, machten wir uns alle auf, um rund um unseren Fußballplatz und im angrenzenden Viertel Müll vom Boden aufzusammeln. Zum einen wollten wir mit der Aktion das Umweltbewusstsein der NYP-Spieler stärken, verbunden mit Hoffnung, dass sie dadurch vielleicht im Familien- und Freundeskreis zum Vorbild werden. Zum anderen wollten wir einen Dienst an der Community leisten. Am Ende der einstündigen Sammelaktion standen fast zwanzig große, prall gefüllte Müllsäcke auf unserem Fußballplatz zum Abholen bereit.

Später führten wir in Zusammenarbeit mit einer Nicht-Regierungsorganisation einen Workshop zum Thema „Gewaltfreie Kommunikation und Fair Play“ durch. Mit Hilfe verschiedener interaktiver Methoden wurden die Teilnehmer immer wieder aufgefordert, sich aktiv zu beteiligen und beispielsweise Erfahrungen aus ihrem Alltag oder vom Fußballplatz einzubringen. Um den Workshop möglichst interessant zu gestalten, wurde vor allem im Abschnitt über das Fair Play ein Fußballbezug hergestellt.

Das Highlight meines Aufenthalts – nicht nur für mich, sondern auch für die Spieler – waren die ersten Freundschaftsspiele der beiden NYP-Mannschaften überhaupt. Die Juniors spielten auf dem heimischen Kleinfeldplatz im 7 gegen 7 gegen ein paar Jungs aus dem Viertel. Obwohl die Gegner älter und den meisten unserer Spieler körperlich deutlich überlegen waren, kombinierte sich das NYP-Junior-Team zu einem sensationellen 8:0-Sieg. Darunter waren einige sehr schön herausgespielte Tore. Die Freude bei den Kindern war entsprechend groß, hatte sich die regelmäßige Teilnahme und gute Trainingsarbeit doch ausgezahlt.

Für die Senior-Mannschaft organisierte Rajiv ein Freundschaftsspiel gegen die Nachwuchsmannschaft eines Vereins aus Kathmandu, der in der B-Division, der zweithöchsten Spielklasse Nepals, spielt. Diesmal waren einige unserer Spieler ein bis zwei Jahre älter. Statt auf unserem eigenen engen und sandigen Trainingsplatz spielten wir das erste Mal überhaupt auf Großfeld in einem kleinen Stadion. Die Stimmung vor dem Spiel war eine Mischung aus Nervosität und Vorfreude. Nach einem konzentrierten Warmmachen und der Ansprache der Trainer ging es los. Die Mannschaft gewöhnte sich schnell an das große Feld und setzte die Vorgaben gut um. Zur Halbzeit stand es 1:0 für unsere Farben. Nur die Chancenauswertung und die mangelnde Entschlossenheit vor dem gegnerischen Tor gab es zu bemängeln. Doch in der zweiten Halbzeit nahmen sich die Spieler dies zu Herzen und schossen das NYP-Team zu einem verdienten 6:0-Sieg. Alle – Trainer wie Mannschaft – waren überglücklich und stolz auf die eigene Leistung, hatte man doch in den vorangegangenen Wochen speziell im mannschaftstaktischen Bereich gearbeitet und die neu eingeübten Viererketten in Abwehr und Mittelfeld zum ersten Mal zum Einsatz gebracht.

In der letzten Trainingseinheit vor meinem Rückflug spielten wir, ganz im Geiste der Spiele von Rio, die NYP-Fußball-Olympiade 2016 aus. Sechs Teams, die die Länder Nepal, Deutschland, Spanien,  Brasilien, Nigeria und Australien vertraten, „kämpften“ in sieben Disziplinen, vom Passkegeln bis zum Fußball-Biathlon, um die Goldmedaille. Gleichzeitig war dies auch ein Familientag, und alle Eltern, Geschwister und Freunde der NYP-Spieler waren eingeladen, an der Fußball-Olympiade teilzunehmen. Dementsprechend wurden die Teams durch die Familienmitglieder und Freunde verstärkt.

Bevor es losging, wurde jede der teilnehmenden Mannschaft in der Eröffnungsfeier vorgestellt. Dafür hatten die Spieler eine Woche lang Zeit gehabt, ein Plakat mit Basis- und Fußballinformationen über „ihr“ Land zu erstellen und allen anderen Teilnehmern zu präsentieren. Die NYP-Fußball-Olympiade stand ganz im Zeichen der olympischen Werte von Fair Play, Respekt und Freundschaft. Einige Spieler des Senior-Teams fungierten als Stationsleiter der verschiedenen Disziplinen, die sie erklären und als Schiedsrichter beaufsichtigen mussten. Wie es der Zufall wollte, hatte am Ende das Gastgeberland Nepal die meisten Punkte gesammelt, worüber sich auch die geschlagenen Mannschaften freuen konnten. Die Teilnahme vieler Eltern zeigte uns Trainern und auch den Kindern,  dass von  Elternseite ein Interesse am Programm herrscht. Im Anschluss an die Siegerehrung verabschiedeten wir uns voneinander mit kleinen Geschenken und Danksagungen, und ich musste versprechen, bald wiederzukommen. Dank des Reisekostenzuschusses des VfR-Nepal-Unterstützerkreises war es mir möglich, jedem Spieler und jeder Spielerin eine NYP-Trinkflasche und dem Programm zehn neue Bälle zu überreichen.

Was die Zukunft betrifft, hat Projektleiter Rajiv einen Zwei- und Fünfjahresplan, wie das NYP   weiterentwickelt und vor allem verbreitet werden kann. Zum einen soll das bestehende Programm um einige Ideen, die wir gemeinsam diskutiert haben, ergänzt werden. Zum anderen soll das Programm auch für Kinder und Jugendliche in anderen Stadt- und Landesteilen verfügbar gemacht werden. Ein erstes Gespräch mit Kindern und Trainern einer interessierten Gemeinde im Süden des Landes haben wir geführt. Wichtig ist dabei, dass interessierte Gruppen das Gesamtkonzept des Programms verstehen. Das NYP ist nicht auf die Vermittlung fußballerischer Fertigkeiten beschränkt, sondern legt ebenso viel Wert auf die soziale Entwicklung von jungen Menschen. Dies zu kommunizieren und andernorts umzusetzen, wird die größte Herausforderung in den nächsten Jahren sein.

Mit Rajiv bin ich so verblieben, dass ich das NYP von Deutschland aus weiter unterstützen werde. Die Pläne gehen dahin, einen Unterstützerkreis in Freiburg aufzubauen, möglichst unter dem Dach des VfR Merzhausen. Zudem werde ich das Programm mit Ideen zum Thema Fußball und Bildung aus meiner Arbeit in Deutschland versorgen und beratend zur Seite stehen.