Frühjahr 2017: Franz Asal und Wolfgang Weyers

Kathmandu ist ein Moloch – eine Millionenstadt, in einer Höhe von 1350 m am Fuße des Himalaya gelegen, deren Einwohnerzahl sich innerhalb von sechs Jahren mehr als vervierfacht hat. Eine Stadt im Dunst, zu dem die Kessellage ebenso beiträgt wie die dichte Bevölkerung, das hohe Verkehrsaufkommen und die Unmengen an Schotterstraßen und Bauschutt, deren Sand vom Verkehr und den einfallenden Winden aufgewirbelt wird. Eine Stadt der Gegensätze: moderne Betonbauten mit Wohnungen, deren Ausstattung und Preise mit denen westlicher Großstädte durchaus vergleichbar sind, wechseln mit kleinen Wellblechhütten, unter deren Dächern er Rauch von offenen Feuerstellen hervorquillt; die Ziegel- und Glasfassaden von Banken und Hotels, in denen digitalisierte Daten ein- und ausgehen, finden sich neben hinduistischen und buddhistischen Heiligtümern, in denen Götter und Dämonen mit Inbrunst verehrt oder gnädig gestimmt werden oder in denen ein gutes Karma durch Drehen von Gebetsrädern beschworen wird.

Eine demokratische Grundordnung, die auf dem Papier gleiche Rechte für alle sichert, steht dem nach wie vor prägenden Kastensystem gegenüber. Durch die engen Gassen drängen sich Fußgänger, handgeschobene Verkaufskarren und die unvermeidlichen frei laufenden Kühe ebenso wie Autos und unzählige Motorräder, wobei jeder Zentimeter ausgenutzt wird und die gegenläufigen und sich kreuzenden Ströme immer wieder zum Stillstand führen. Um die nicht selten stundenlangen Staus an den Kreuzungen der Hauptverkehrsadern zu umgehen, weichen Motorräder, Personen- und sogar Lastkraftwagen auf Wege aus, deren Breite kaum für Fußgänger und Fahrrädern ausreicht, und nutzen bei Gegenverkehr kleine Ausbuchtungen, um sich aneinander vorbeizuzwängen, während bei fehlendem Gegenverkehr jede Möglichkeit zum Überholen wahrgenommen wird, dies alles begleitet von einem allgegenwärtigen Hupkonzert.

Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt mit einer hohen Quote an Analphabeten. Obwohl damit begonnen wird, auch in den Bergprovinzen Schulen zu bauen, sind die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten dort gering. Die wirtschaftliche Dynamik, die mit der Abschaffung des Königtums und der Einführung einer föderalen Demokratie im Jahre 2008 eingesetzt hat, hat die ohnehin bestehende Landflucht verstärkt. Im Unterschied zum Leben in abgelegenen Bergdörfern bieten Kathmandu und andere größere Städte nicht die Gewähr einer besseren Zukunft, aber doch die Hoffnung darauf, und der Erwerb eines Motorrades oder gar eines Kleinwagens, der bei nahezu fehlendem Eigenkapital durch preisgünstige Kredite ermöglicht wurde, hatte hohen symbolischen Wert. Dasselbe gilt für neue Bauten. Wenn sich Investoren finden, dann bekommen sie in der Regel grünes Licht, und die Infrastruktur hinkt den neu geschaffenen Tatsachen aus Stein und Beton weit hinterher. Dies gilt für den Verkehr ebenso wie für die Wasser- und Stromversorgung. Bei Neubauten werden bestehende Leitungen angezapft, unabhängig von der verfügbaren Versorgung, und wiederholte Stromausfälle sind in Kathmandu an der Tagesordnung.

In diesem Umfeld von Armut und einer großen wirtschaftlichen Dynamik mit nur minimalen Kontrollen und Planungsvorgaben finden die Interessen von Kindern und Jugendlichen nur wenig Berücksichtigung. Freie Flächen gibt es im Stadtgebiet wenige, und viele Kinder spielen unmittelbar neben belebten Straßen, auf denen sich Lastwagen hupend überholen. Sportmöglichkeiten oder gar Möglichkeiten für ein geregeltes Training gibt es kaum. Zwar existieren einige Hallen, in denen Futsal gespielt wird, doch deren Nutzung ist für die meisten Kinder und Jugendlichen unerschwinglich. Wegen der fehlenden Jugendarbeit kommt auch der Spitzensport nicht auf die Beine; der letzte große Erfolg der Fußball-Nationalmannschaft – der Gewinn der Südasienmeisterschaft 1993 unter Trainer Holger Obermann – liegt viele Jahre zurück.

Um an dieser Situation etwas zu ändern, wurde 2015 vom früheren Nationalspieler Rajiv Nepali, der mehrere Jahre in Deutschland beim SV Wehen spielte, in Zusammenarbeit mit Holger Obermann das „Nepal Youth Programme“ ins Leben gerufen, dessen Ziele darin bestehen, ein regelmäßiges Fußballtraining anzubieten, Talente zu sichten, zu fördern und gegebenenfalls an die wenigen existierenden Vereine zu vermitteln, vor allem aber zur Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen beizutragen, von der Überzeugung geleitet: „Die beste Schule ist der Fußballplatz“. Neben dem regelmäßigen Training gibt es kostenfreie Gesundheits-Checks, Sporttage für die ganze Familie und einmal im Monat einen Vortrag zu unterschiedlichen Themen – vom Umweltschutz bis hin zum Umgang mit Gewalt.

Das Projekt musste in seiner kurzen Geschichte schon einige Rückschläge hinnehmen. Die Suche nach einem Trainingsplatz in Kathmandu war schwierig. Im Stadtteil Kopan wurde ein 35×50 m großer Platz gefunden, der einer privaten Schule gehörte und mit Mitteln, die Holger Obermann  bei seiner Wahl zum „Deutschen Fußball-Botschafter 2013“ zugesprochen wurden, zum „Obermann Football Ground“ umgebaut wurde. Vier Wochen nach seiner feierlichen Einweihung wurde der Platz durch das schwere Erdbeben vom 25. April 2015 wieder zerstört. Gleichzeitig wurden viele Familien obdachlos, und in dieser schwierigen Lage gewann das Fußballspiel als Vermittler von Freude und Hoffnung zusätzliche Bedeutung. Eine Spendenaktion, an der sich unter anderem die Franz-Beckenbauer-Stiftung beteiligte, ermöglichte die rasche Wiederherstellung des Platzes in Kopan, doch im Oktober 2016 kam die nächste Hiobs-Botschaft: die Mount Kailash Boarding School verkaufte den Platz für rund 1,5 Millionen Euro an einen indischer Investor, und da kein anderer Platz zur Verfügung stand, musste der Trainingsbetrieb erneut eingestellt werden.

So ist das in Nepal: da wird nicht geplant, sondern gehandelt, und wenn größere Geldsummen im Spiel sind, gibt es kaum Gegenargumente. Eine geordnete Stadtentwicklung unter Berücksichtigung von Aspekten wie Verkehrsführung, Trennung von Industrie-, Gewerbe- und Wohngebieten oder Freizeitmöglichkeiten findet nicht statt. Immerhin wurde in Kuleshwor, einem im Südwesten Kathmandus gelegenen Stadtteil mit etwa 100.000 Einwohnern, die Stadtplanung als „Pilotprojekt“ in Angriff genommen. In diesem Stadtteil wurden die Verantwortlichen des „Nepal Youth Programme“ im Januar 2017 auf der Suche nach einem neuen Platz fündig. Mit Ausmaßen von 24×25 m ist er etwas kleiner als in Kopan, aber er ermöglichte die Wiederaufnahme des Trainingsbetriebs. In den folgenden Wochen wurden die Einrichtungen am Platz in Kopan abgebaut und nach Kuleshwor gebracht: Tore, Fangnetze für Bälle, schmale Zuschauerbänke aus Metall und Trainingsmaterialien. Dies wurde auch durch Spenden aus Merzhausen und Freiburg ermöglicht. In der Nähe des neuen Platzes gibt es außerdem ein Schulungszentrum, das für die regelmäßigen Vorträge im Rahmen des „Nepal Youth Programme“ genutzt werden kann.

Die meisten der Kinder und Jugendlichen, die am Training teilnehmen, kommen inzwischen aus Kuleshwor. Der neue Standort ist zwar nur 7 km vom alten Platz entfernt, doch diese Distanz ist schwer zu überbrücken. Der öffentliche Nahverkehr ist für eine Millionenstadt wie Kathmandu völlig unzureichend, und sich mit dem Fahrrad auf die waghalsige Tour von einem Stadtteil in den anderen zu machen, ist nicht ungefährlich und erfordert starke Nerven. Manche der älteren Kinder und Jugendlichen aus Kopan nehmen diese Strapaze auf sich; für die jüngeren Kinder wird ein- bis zweimal pro Woche ein Training in einem kleinen Hof in Kopan angeboten.

Am Sonntag, den 9. April, kamen jedoch zwei Teams aus Kopan nach Kuleshwor, um an einem Turnier zur offiziellen Inbetriebnahme des neuen Platzes teilzunehmen. Der Termin war gewählt worden, weil es Besuch aus Deutschland gab: Schirmherr Holger Obermann und zwei Vertreter des VfR Merzhausen, Fußball-Abteilungsleiter Wolfgang Weyers und Franz Asal, waren die Ehrengäste und nahmen auch die Siegerehrung vor. Gekommen waren außerdem Vertreter der Presse, der Bürgermeister von Kuleshwor und Mitglieder des Kuleshwor Awas Youth Council, die am neuen Fußball-Projekt großes Interesse zeigten – ein gutes Omen für die weitere Entwicklung.

Wie diese Entwicklung voranschreitet, bleibt abzuwarten. Das Interesse seitens der Kinder und Jugendlichen ist groß. Ein Spektakel wie beim Eröffnungsturnier, mit Mannschaften in Trikots, Wasserkanistern, aus denen sich Spieler und Zuschauer bedienen können, und sogar Lunch-Paketen für alle Beteiligten, ist in Kathmandu nicht an der Tagesordnung. Von den Zaungästen, die den Spielen des Turnieres zusahen, erschienen schon zwei Tage später einige beim nächsten Training, das von den Vertreter des VfR mitgestaltet wurde. So schwierig es ist, auf engstem Raum mit vielen Kindern sinnvolle Übungen durchzuführen, so groß sind Begeisterung und Disziplin. Bei einem anhaltenden Zulauf wird eine stärkere Aufteilung nach Alters- oder Leistungsgruppen mit zusätzlichen Trainingszeiten erforderlich sein. Die Trainer sind im Wesentlichen ehrenamtlich tätig, was in Nepal eine  Ausnahmeerscheinung ist. Bei stärkerem zeitlichem Engagement werden sie eine kleine Aufwandsentschädigung benötigen. Zusätzliche Trainer müssen gefunden werden. Wichtig ist auch das Rahmenprogramm, das über den Fußball hinausreicht. Für das laufende Jahr liegt eine von Rajiv Nepali und Marc Hoffmann zusammengestellte Liste von Themen vor, die im Rahmen der begleitenden Vorträge behandelt werden sollen. Zusätzlich sind wieder Aktionen wie der „Environmental Awareness Day“ geplant, an dem die Spieler des „Nepal Youth Programme“ sich des Müllproblems in ihrem Stadtviertel angenommen haben. Von diesem Engagement wird auch abhängen, wie stark und nachhaltig das „Nepal Youth Programme“ von den politischen Entscheidungsträgern in Kuleshwor gefördert wird, ob zusätzliche Standorte etabliert werden können und ob Stiftungen bereit sind, das Projekt zu unterstützen.

Die VfR-Fußballabteilung will diese Entwicklung begleiten. Innerhalb des Vereins ist dies nicht möglich, da ein solches Engagement über die satzungsgemäßen Zwecke hinausgeht. Deshalb wird für das Nepal-Projekt ein Förderverein gegründet, dem Marc Hoffmann vorstehen wird. Ziel des Fördervereins ist nicht nur eine moderate, aber verlässliche finanzielle Unterstützung des „Nepal Youth Programme“, sondern vor allem auch ein reger Austausch. Mit dem „Nepal Youth Programme“ hat der VfR nicht nur ein Entwicklungshilfeprojekt auf seinem ureigensten Gebiet, dem Fußball und insbesondere der Jugendarbeit, bei dem gewährleistet ist, dass Spenden dort ankommen, wo sie benötigt werden, sondern für seine jungen Fußballer auch eine Anlaufstation, wo sie willkommen sind und sich in einem fremden Land sozial für einige Tage, Wochen oder auch Monate engagieren können. Spieler, die sich dafür interessieren, können aufgrund bereits bestehender Erfahrungen schon in Deutschland auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Auch bei der Planung der Reisen kann der Förderverein Hilfestellung geben.